Regenschirm. Roman.
Will Self, Hoffmann und Campe 2014
Harte Arbeit
Ich mag Will Self aus zwei Gründen. Da sind seine großartigen Romane "Wie Tote leben" und "Die schöne Welt der Affen", die mich seinerzeit ungeheuer begeistert haben, vermutlich auch, weil sie zu den lesbareren Büchern des kongenialen Briten gehören, dessen Erstling "Spass - eine Moritat" demgegenüber die Grenze zur absoluten Unverständlichkeit an sieben bis siebzig Stellen weit überschritt. Und außerdem - der zweite Grund - stammt von Self eines meiner Lieblingszitate, das er 2015 im Rahmen eines Interviews von sich gegeben hat: "Nur weil du paranoid bist, ist noch lange nicht gesagt, dass man es nicht auf dich abgesehen hat."
So isses.Nach "Wie Tote leben" habe ich Self ein bisschen aus dem Blick verloren. Er geriet wieder hinein, als sein Buch "Shark" im Jahr 2016 auf der Shortlist für den Übersetzerpreis der deutschen Buchmesse landete. Da "Shark" offenbar ein zweiter Teil ist, habe ich zunächst den vermeintlichen Vorgänger "Regenschirm" gekauft und gelesen. Dieses Buch wiederum befand sich im Jahr 2012 auf der Shortlist für den Booker Prize. Da hatte Will Self schon erklärt, dass er den Roman für eine tote Form hält, für eine längst überkommene Gattung.
Nunwohl, "Regenschirm" ist auch nicht wirklich das, was man landläufig als Roman bezeichnen würde. Eher das Gegenteil davon, falls es so etwas geben sollte. Es ist eine Tortur, dieses Buch zu lesen. Als wenn man barfuß und mit verbundenen Augen seiltanzen müsste, auf einer zu dünnen Leine, die mit Scherben beklebt wurde. Eine haarsträubende, schmerzhafte, ziemlich schwierige Angelegenheit. Aber auch ... äh. Interessant. Und am Ende ist man ziemlich froh, dass man es geschafft hat. Sogar ein bisschen glücklich. Und redlich fassungslos darüber, wie man nur auf die Idee kommen konnte, das zu versuchen.
Die Geschichte spielt auf drei Zeitebenen. Audrey Death und ihre Brüder Stanley und Albert erleben Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das schmierige, schmutzige, merkwürdige London jener Zeit, später dann den Ersten Weltkrieg, der für die Geschwister höchst unterschiedlich endet. Stanley verschwindet quasi mitten aus der Schlacht in einer Art Höhlensystem, wird zum Troglodyten, gemeinsam mit desertierten Soldaten aus allen beteiligten Ländern. Der hochbegabte Albert organisiert die Munitionsproduktion, in der Audrey auch tätig ist, bis sie an der "Europäischen Schlafkrankheit" erkrankt und in eine Art Koma fällt.
Die zweite Ebene befindet sich in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts. Der junge Psychiater Zachary Busner trifft an seiner neuen Arbeitsstelle, einer psychiatrischen Klinik in der Nähe Londons, auf einige Patienten, die seit Jahrzehnten dahinvegetieren, aber zwischendrin tic-ähnliche Anfälle haben, plötzlich merkwürdige Bewegungen vollführen oder unzusammenhängende Sätze brüllen. Busner kommt auf die Idee, diese "Post-Enzephalitischen" mit dem neuen Medikament L-Dopa zu behandeln, einer Vorstufe des Dopamins - und, siehe da: Sie erwachen. Genau dieser Vorgang würde übrigens in Oliver Sacks' Buch "Awakenings" thematisiert, aus dem dann später u.a. der Film "Zeit des Erwachens" entstand.
Auf der dritten Zeitebene, ungefähr jetzt, ist Busner alt - und blickt mehr oder weniger auf die Geschehnisse zurück.Was sich in der Zusammenfassung vergleichsweise simpel liest, ist im Original - also im Text selbst - so unzugänglich und anstrengend verpackt, dass man verzweifeln könnte, gäbe es zwischen den spontanen Wechseln von Zeiten, handelnden Personen und Sprachebenen nicht so viele hinreißende, fassungslos machende Sätze, wäre das Ganze nicht so unfassbar kunstvoll, so wahrnehmbar auf eine Weise, die man vom Romanlesen eigentlich nicht kennt. Es fällt schwer, das in nachvollziehbare Worte zu fassen. Will Self haut dem Leser einen komplexen und komplizierten Textschwall um die Ohren, verzichtet auf jedwede Erklärung, sogar auf Gewichtungen, springt zuweilen innerhalb eines Satzes, lässt etwas einfach mittendrin enden, führt Figuren ein und lässt sie gleich wieder verschwinden, mischt Dialoge und Handlungen, treibt einen fast in den Wahnsinn. Und doch funktioniert es irgendwie, ergeben die vielen Kursiven auch einen Sinn, wird das Bild erkennbar, weil man sozusagen ständig dazu gezwungen ist, die Augen zusammenzukneifen. Es ist harte Arbeit, dieses Buch zu lesen, aber Arbeit, die sich lohnt.
Trotzdem werde ich lieber ein paar Wochen warten, bis ich mit "Shark" anfange.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Oktober 2016
ISBN: 978-3499290428
EUR 14,99
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